Eine gewaltige Chance für die heimische Industrie
Das Schlagwort Industrie 4.0 ist in der Öffentlichkeit angekommen und hat sich seitdem zu einem Marketing-Begriff entwickelt. Hinter den Kulissen wird schon länger an entsprechenden Technologien gearbeitet, heimische Start-Ups bieten innovative Produkte an. Während sich große Unternehmen schon intensiv mit dem Thema beschäftigen, ist Industrie 4.0 besonders für KMUs noch Neuland. Für den heimischen Standort und die Wirtschaft bietet sie eine gewaltige Chance.
Im Minutentakt stanzt ein junger Arbeiter in der Fertigungshalle von Schinko in Neumarkt im Mühlkreis mit einer Abkantpresse Gehäuse-Teile aus dem Metall. Das Neue daran: Jeder einzelne Hub, jeder einzelne Impuls wird seit zwei Wochen von einem unscheinbaren, weißen Gerät von Linemetrics aufge- zeichnet, das ein bisschen an einen WLAN-Router erinnert und in Echtzeit die Daten über Mobilfunk in die zentrale Internet-Plattform übermittelt. Damit wertet Schinko aus, wie gut die Maschinen ausgelastet sind, wo noch Optimierungsbedarf besteht, ob und wann es Stillstände in der Produktion gibt. „Für uns ist es besonders spannend, was unsere Kunden mit den Daten machen, die wir liefern“, sagt Wolfgang Hafenscher. Gemeinsam mit Reinhard Nowak gründete er 2012 Linemetrics, das heute zu den bekanntesten Start-ups Österreichs gehört. Die Auswirkungen der Industrie 4.0 werden als so tiefgreifend prognostiziert, dass sie die vierte industrielle Revolution auslösen sollen. Nur wenige Unternehmen haben bisher die Bedeutung für sich definiert, der Interpretationsspielraum ist groß. Während manche darunter vollautomatisierte, autonome Smart-Factorys verstehen, bezeichnet für andere der Begriff „nur“ den Einzug der Internettechnologie in die Industrie.
Mit Letzterem beschäftigt sich Linemetrics intensiv. „Wir wollen nicht eine gesamte Fabrik neu steuern, sondern bestehende Vorgänge transparenter machen“, sagt Hafenscher. Eine Art Google Analytics für die reale Welt also. Das Start-up mit Sitz im niederösterreichischen Haidershofen nahe Steyr ist mit diesem Ansatz mittlerweile höchst erfolgreich. Beim NEXT13 Start-up- Pitch in Berlin setzt sich Linemetrics gegen Apps aus ganz Europa durch, die teilweise schon Millionen Kunden zählen, später nimmt das Unternehmen an der Start-up-Show „Zwei Minuten, Zwei Millionen“ teil, wo ein Investor gefunden wird. „Am Anfang waren die Unternehmen mit unserem modernen Ansatz etwas überfordert, die Kaltakquise war sehr schwierig, mittlerweile ist aber großer Zuspruch da“, sagt Hafenscher.
„Für uns ist es besonders spannend, was unsere Kunden mit den Ergebnissen machen, die wir liefern.“
Wolfgang Hafenscher
Obwohl die Industrie in Europa bereits hochautomatisiert ist und Prozesse ständig optimiert werden, sehen sich immer mehr Betriebe gezwungen, die Fertigungsprozesse in Billiglohnländer auszulagern. „Industrie 4.0 bietet nun die Chance, durch Produktivitätssteigerung, Qualitätsführerschaft und Flexibilisierung Fertigungssandorte in Europa abzusichern oder sogar zurückzuholen“, sagt Walter Oberreiter. Oberreiter ist Industrie 4.0-Experte von CSC, einem weltweit führenden Anbieter für IT-gestützte Businesslösungen und Dienstleistungen, der auch in Österreich mit Niederlassungen in Wien, Linz, Graz und Klagenfurt vertreten ist. CSC unterstützt als herstellerneutraler IT-Dienstleister mit Beratung, Systemintegration und Managed Services Kunden dabei, durch Einsatz neuester Technologien ihre Leistungsfähigkeit zu steigern und Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Besonderes Potential sieht Oberreiter nicht nur direkt im Fertigungsbereich, sondern auch in den vor- und nachgelagerten Bereichen der Wertschöpfungskette. Bei großen Unternehmen befinde sich das Thema oft schon in der Umsetzungsphase. Die Infineon Technologies AG etwa erweitert ihren Standort in Villach um einen Pilotraum für Industrie 4.0 und lässt sich das insgesamt 290 Millionen Euro kosten. Dort sollen neuartige Konzepte getestet und umgesetzt werden. Für den traditionell starken KMU-Bereich in Österreich sei das Thema Industrie 4.0 hingegen meist noch Neuland. „KMUs haben zumeist nicht die nötigen Ressourcen, sich mit dem Thema strategisch auseinanderzusetzen“, sagt Oberreiter, „neue Technologien bedeuten natürlich auch Investitionen und Veränderungen, was für kleinere Unternehmen mit einem größeren Risiko verbunden ist.“
Industrie 4.0 zur „Chefsache“ erklären
Bei einer Studie der CSC wurden 900 Manager und Entscheidungsträger aus schweizerischen, deutschen und österreichischen Unternehmen mit min- destens zehn Mitarbeitern zum Thema Industrie 4.0 befragt. In Österreich gaben 84 Prozent der Befragten an, es gebe nicht genügend Informationen zu den Chancen und Risiken der neuen Entwicklung, während 50 Prozent meinten, Industrie sei „sehr wichtig“ oder „eher wichtig“ für die Entwicklung in der Wirtschaft. Um nicht den Anschluss zu verlieren, rät Oberreiter, Industrie 4.0 im Betrieb zur „Chefsache“ zu erklären. „Das Thema sollte nicht nur den Technikern alleine überlassen werden“, sagt er, „man sollte sich auf Management-Ebene genau überlegen, was man erreichen will.“ Es gelte zu vermeiden, dass Industrie 4.0 nur als technischer Hype gesehen werde. „Wir empfehlen eine durchgängige Informations- und Bewusstseinsbildung, nicht nur in einzelnen Köpfen, sondern auch quer durch das gesamte Management“. Optimal sei die Implementierung einer Taskforce, die Strategien plant und entsprechende Aktivitäten koordiniert. Diese Taskforce sollte aus Business- und IT-Experten bestehen. An denen dürfte es übrigens in Zukunft besonders fehlen. „Der Fachkräftemangel wird besonders im Industrie 4.0-Bereich ein großes Problem“, sagt Oberreiter. Er sieht vor allem den Bedarf an Experten, die technologisches Know-how mit industriespezifischem Prozesswissen für neue Strategien nutzbar machen können. Darauf zielt das Beratungsangebot von CSC ab. Unternehmen werden bei der strategischen Planung ihrer eigenen Industrie 4.0-Roadmap und dem Aufbau der dafür nötigen Fähigkeiten unterstützt.
„Industrie 4.0 sollte als Hebel zur Innovation des Geschäftsmodells verstanden werden.“
Walter Oberreiter
Auch bei DAGOPT hilft man seinen Kun- den, die Geschäftsprozesse zu analysieren. Das Start-up bietet unter anderem Optimierungs- und Softwarelösungen an, durch die es Unternehmern leichter fällt, die richtigen Entscheidungen zu treffen. 2011 gründete ein Team aus führenden Professoren und Wissenschaftlern das Unternehmen. „Die Gründer forschten damals an diversen Projekten, es gab viele Anfragen von Firmen, der Markt war da“, sagt Franz Haller, der ein halbes Jahr später dazu kommt und nun Geschäftsführer ist. „Wir sehen uns als Spezialisten für mathematische Opti- mierung und Echtzeit-Prognosen“, sagt er. Bekommt ein Unternehmen etwa mehrere Aufträge gleichzeitig, kann berechnet werden, welche Reihenfolge am günstigsten ist, und wie dabei am wenigsten Zeit und Material verloren geht – in Echtzeit. Am Anfang merkt Haller in den ersten Kundengesprächen eine gewisse Skepsis. Die würde sich aber meist schnell legen. „Wir machen näm- lich dann Geld, wenn der Kunde durch uns mehr verdient, also wenn die Software langfristig eingesetzt wird.“
Skepsis gibt es auch, was die Auswirkungen der Industrie 4.0 auf die Arbeit generell betrifft. Wird durch eine immer stärker automatisierte und optimierte Fabrik nicht der Arbeiter langsam un- nötig? Nein, sagt Haller, das Gegenteil sei der Fall. „Die Industrie 4.0 hat eine Vernetzung der gesamten Wertschöpfungskette zur Folge – das fängt an beim Design, bei der Logistik, dem Einkauf, Produktion, Versand – und man braucht überall Personen, die in diesen Bereichen Kompetenzen haben.“ Eines ist klar: Auch wenn nicht sicher ist, ob die angekündigte Revolution so tatsächlich stattfindet – die Auswirkungen der neuen technologischen Möglichkeiten auf die heimische Industrie werden auf jeden Fall enorm sein.
„Wir machen dann Geld, wenn der Kunde durch uns langfristig mehr verdient.“
Franz Haller
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