Nur Risiken und Wettbewerbsnachteile? Von wegen: Richtlinien zu ESG (Environment, Social, Governance) und Compliance bieten für Unternehmen auch gewaltige Chancen. Warum man den Kopf nicht in den Sand stecken sollte und warum es einen Kulturwandel in Betrieben braucht, erklären Thomas Baumgartner und Kaleb Kitzmüller von der Kanzlei Haslinger / Nagele mit Sitz in Linz und Wien.
„Was soll ich denn noch alles machen?“ Eine Rückmeldung, die Thomas Baumgartner immer wieder auf ESG-Konferenzen oder in Beratungsgesprächen hört. „Besonders heimische KMU sind in Anbetracht der Verpflichtungen anfangs oft ernüchtert“, sagt er. In Österreich herrscht in vielen Unternehmen daher eine gewisse Skepsis, wenn es um die proaktive Umsetzung von ESG Initiativen geht.
Diese Herangehensweise ist bei ESG-Themen in Zukunft aber nicht mehr möglich, erklärt Baumgartner, der in der Kanzlei als ein Bindeglied für unterschiedliche ESG-Expertisen fungiert. Denn auch wenn ESG-Themen bereits in der Vergangenheit eine wichtige Rolle gespielt haben, steigt derzeit die Bedeutung. „Dadurch, dass es mittlerweile rechtliche Verpflichtungen gibt, sind wir in einem Bereich, in dem Geschäftsführer:innen bei Fehlverhalten haften.“ Die EU ist gerade in der Ausarbeitung eines Lieferkettengesetzes, das vorgeben wird, in welcher Form Unternehmen menschen- und umweltrechtliche Sorgfaltspflichten erfüllen müssen. „Deutschland ist bereits vorgeprescht, dort gibt es seit Jahresbeginn ein solches Gesetz“, sagt Kitzmüller, Rechtsanwalt bei Haslinger / Nagele. Mit umfassenden Auswirkungen für österreichische Unternehmen. „Als unmittelbare Lieferanten werden sie in die Risikoanalyse eingebunden und müssen sich selbst mit der Sorgfaltspflicht entlang ihrer Lieferkette auseinandersetzen. Die Verantwortung der Unternehmen endet nicht mehr am Werkstor.“ Besonders oft wird von Unternehmen derzeit zum neuen HinweisgeberInnenschutzgesetz in der Kanzlei nachgefragt. „Durch dieses Gesetz werden Unternehmen und juristische Personen des öffentlichen Sektors ab 50 Mitarbeiter:innen verpflichtet, eine interne Meldestelle zu Missständen einzuführen“, sagt Kitzmüller.
Kulturwandel im Unternehmen etablieren
ESG ist komplex – und umfasst verschiedenste Themenbereiche, einheitliche Standards gibt es meist nicht. „Jedes Unternehmen muss deswegen individuell bestimmen, welche Kriterien und Leitlinien Priorität haben und was Sinn macht“, erklärt Kitzmüller. Besonders wichtig sei die interne Kommunikation. Weil ESG-Themen meist schwer greifbar sind, müssen die Unternehmen allen Stakeholder:innen erklären, wohin die Richtung geht, welche Chancen identifiziert und welche Ziele verfolgt werden. Denn die Umsetzung darf nicht an einigen wenigen Personen hängen bleiben. „Manche Unternehmen setzen den Hut einer Person auf, die bereits zahlreiche andere Verantwortungen hat – das Thema muss viel breiter behandelt werden.“ Wichtig sei es deswegen, die Unternehmenskultur ganzheitlich zu verändern und Bewusstsein zu schaffen. Für Kitzmüller bedeutet das etwa, dass Vertriebs- und Einkaufmitarbeitende als Selbstverständlichkeit ESG-Themen in ihre Checkliste aufnehmen und beispielsweise prüfen, dass Sublieferanten nicht aus Regionen kommen, in denen Menschenrechts- oder Umweltschutzverstöße auf der Tagesordnung stehen. Kitzmüller: „ESG muss im täglichen Geschäft mitgedacht werden.“ Bei Haslinger / Nagele weiß man, dass der Weg dahin kein leichter ist. Baumgartner: „Die Etablierung eines nachhaltigen Kulturwandels im Betrieb ist für Berater:innen und Unternehmer:innen eines der schwierigsten Unterfangen.“
„Letzte Generation, die etwas tun kann“
Umfassende Regularien werden von vielen Unternehmen als gewaltiger Wettbewerbsnachteil gegenüber Mitbewerbern außerhalb Europas gesehen. Trotzdem bringe es nichts, den Kopf in den Sand zu stecken – denn eine umfassende ESG-Strategie biete auch gewaltige Chancen. „Sie kann ein Startschuss für eine erfolgreiche Zukunft sein“, sagt Baumgartner. Wer sich etwa genau mit der eigenen Lieferkette befasst, hat gute Chancen, Möglichkeiten zur Optimierung zu entdecken. Glaubhafte Transparenz- und Nachhaltigkeitsstandards seien besonders für junge, qualifizierte Arbeitnehmer:innen attraktiv – und erleichtern die Suche nach kompetenten Personal. Die beiden Experten raten Unternehmen, sich proaktiv mit dem Thema auseinanderzusetzen, eigene Risiken zu analysieren und Präventivmaßnahmen zu setzen. Bei der Umsetzung müsse Hilfestellung angeboten werden – einerseits von Berater:innen, andererseits auch seitens der Politik.
Nicht zuletzt gehe es abseits von möglichen Chancen für Unternehmen um nicht weniger als die Zukunft der Menschheit. „Man muss sich vor Augen halten, dass wir etwa beim Klimawandel jetzt etwas machen müssen, wir sind die letzte Generation, die in dem Zusammenhang etwas tun kann“, sagt Kitzmüller. Ein Blick in die Vergangenheit bringe deswegen wenig. „Man muss in die Zukunft blicken.“_
ESG muss im täglichen Geschäft mitgedacht werden.
Kaleb Kitzmüller
Rechtsanwalt, Haslinger / Nagele
Eine umfassende ESG-Strategie kann ein Startschuss für eine erfolgreiche Zukunft sein.
Thomas Baumgartner
Rechtsanwalt, Haslinger / Nagele