Fünf Minuten nach halb sieben. Doris Breuer fährt ihren Computer runter, streckt sich seufzend und steht nach fast acht Stunden permanentem Sitzen von ihrem Schreibtischsessel auf. Ihr Kopf brummt, ihre Augen brennen, ihr Rücken schmerzt, als würde sich jemand ausdauernd mit einer Säge daran zu schaffen machen. Mit einer ziemlich großen Säge. Kurz darauf lässt sie sich erschöpft in den Autositz plumpsen und fährt nach Hause. Während sie sich durch den Abendverkehr schlängelt, kommt ihr der frustrierende Gedanke, dass sie heute eigentlich nichts erledigt hat. Acht Stunden am Schreibtisch! Und das war alles? In ihrer Erinnerung sind nur die vielen Fragen ihrer Kollegen, die sie ihr immer wieder zwischendurch gestellt haben, das eine oder andere Telefongespräch, dieser unangenehme Luftzug von der Klimaanlage direkt über ihrem Kopf und dieses nerventötende Geräusch des Kopiergerätes. „Ist der Arbeitsplatz nicht ergonomisch und individuell angepasst, ist der Mitarbeiter ständig gefordert, all diese peripheren Einflüsse auszublenden. Und das reduziert seine eigentliche Arbeitsleistung“, weiß Herbert Truetsch,Geschäftsführer des Linzer Büromöbelherstellers LEU- WICO. Zuhause angekommen holt sich Doris Breuer schnell ein paar Happen aus dem Kühlschrank, schaltet den Fernseher ein und lässt sich dann völlig erledigt auf das Sofa fallen.
Bewegend
Doris Breuer ist kein Einzelfall. Eine von „fit2work“ initiierte Studie bestätigt, dass ein Drittel der Österreicher unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz leidet. Zu den häufigsten Beschwerden zählen Rückenschmerzen, Nacken- und Schulterschmerzen sowie Augenprobleme und Kopfschmerzen, hinzu kommt das Gefühl der Erschöpfung. Nicht verwunderlich für Arbeitsmediziner Johannes Gerlinger: „Unser Körper ist auf Bewegung ausgelegt! Ideal wäre es, wenn man mehrere Kilometer pro Tag gehend zurücklegen würde. Das lange Sitzen am Schreibtisch ist unnatürlich und führt zu Zwangshaltungen.“ Die Folge sind nicht nur Verspannungen und Schmerzen im Rückenbereich. „Durch den Bewegungsmangel kommt es außerdem zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit an Bluthochdruck, Übergewicht und Verdauungsproblemen.“ Um Folgeschäden zu vermeiden, sei es wichtig, Arbeitsplätze ergonomisch zu gestalten. Doch was bedeutet das? „Gesund ist eine abwechslungsreiche Arbeit, die im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen erfolgt. Arbeitstisch, Tastatur, und Monitor sind optimal auf den Mitarbeiter eingestellt, der Monitor blendet nicht, die Geräuschentwicklung stört die Konzentration nicht“, so Gerlinger, der überzeugt davon ist, dass nur ein zufriedener Mitarbeiter zum Er- folg des Unternehmens beitragen kann.
„Stehung“ statt Sitzung
„Bewegte Mitarbeiter bewegen mehr“, das ist auch das Motto von Wolfgang Miniberger, ehemaliger Geschäftsführer von LEUWICO und Experte in Sachen
Ergonomie. Er plädiert daher zu höhenverstellbaren Schreibtischen. „Der Wechsel zwischen Stehen und Sitzen ist nicht nur gesund für den Bewegungsapparat, sondern fördert auch die Einsatzbereitschaft und Aktivität der Mitarbeiter. Im Stehen können Sie wesentlich konzentrierter arbeiten, weil Sie beim Stehen in Bewegung sind, dadurch wird die Herzkreislauftätigkeit angeregt und Sie ermüden nicht so schnell“, so Miniberger. Höhenverstellbare Schreibtische gibt es in allen Größen und Designs, sogar große Besprechungstische können mit einem Handgriff hochgefahren werden – und so kann aus einer schwunglosen Sitzung eine dynamische „Stehung“ werden. Miniberger rät aber unbedingt zu einem manuell höhenverstellbaren Tisch – jene, die motorisch betrieben werden, würden im Alltag nur selten genutzt werden. Gemeinsam mit seinem Nachfolger Herbert Truetsch bezeichnet er sich als Missionar in Sachen Ergonomie. Es gehe ihm nicht nur darum, einen Tisch, einen Schreibtischsessel oder eine Lichtquelle zu verkaufen. Die vierzig Jahre Erfahrung im Bereich Ergonomie haben ihm gezeigt, dass jeder Arbeitsplatz individuell zu betrachten ist. Bevor er mit einem Kunden überhaupt über mögliche Möbel spricht, macht er eine sogenannte Bedarfserhebung und schaut sich vor Ort an, wie man den Arbeitsplatz oft schon mit einfachsten Mitteln verbes- sern kann. „Es geht darum, ein ergonomisches Wohlfühlumfeld zu schaffen und nicht darum, einen Raum mit Möbeln zu füllen“, erklärt Truetsch. Das Bewusstsein für die große Bedeutung dieses Wohlfühlambientes sei zwar gewachsen, aber es gebe immer noch Firmenchefs, die eine ganz andere Mei- nung vertreten. „Die sagen wortwörtlich: Die Mitarbeiter sind zum Arbeiten da, wozu sollen die’s gemütlich haben?“ sagt Miniberger und schüttelt den Kopf.
Andre Gröschel vom Gießerei-Betrieb Nemak ist entrüstet über so eine Hal- tung. „Der Fachkräftemangel ist eine Entwicklung, die sich seit Jahren deutlich abzeichnet. Wer das noch nicht bemerkt hat, der stellt sich blind!“ 470 Mitarbeiter arbeiten am Standort Linz unter seiner Führung – und zwar hochmotiviert. Das behauptet Gröschel nicht nur selbst, dafür sprechen auch die Zahlen des Linzer Betriebes der Nemak Gruppe. „Wir haben 34 Werke weltweit, Österreich ist das Konzernleitwerk. Und das, obwohl wir die höchsten Lohnkos- ten haben. Das bedeutet, wir müssen in allen anderen Faktoren – ob das Qua- lität oder Innovation ist - perfekt sein. Das muss laufen wie ein Uhrwerk. Es kommt auf das Team an – nur wenn die Mitarbeiter körperlich und geistig funktionieren, wenn es ihnen gut geht, dann haben wir eine top-effiziente Produktion.“
Motivationsfaktor Wertschätzung
Gerd Bauer (Name von der Red. geändert) ist ein Teil dieses Teams bei Nemak. Er sitzt zwei Büros weiter von Geschäftsführer Gröschel. Wobei er eigentlich gerade steht (Stichwort höhenverstellbarer Schreibtisch) und an einer technischen Entwicklung tüftelt. Nach Feierabend trifft er sich mit ein paar Kollegen zum Tischtennisspielen im eigens dafür umfunktionierten Raum im Firmengebäude von Nemak. Er könnte aber auch den Fitnessraum aufsuchen, an einer Fitnessstunde teilnehmen oder bei einer Shiatsu-Behandlung oder Massage entspannen – all diese Möglichkeiten bietet Gröschel seinen Mitarbeitern. Nach einem intensiven Arbeitstag fühlt sich Gerd Bauer weder ausgelaugt noch erschöpft. Er fühlt sich ganz einfach fit und gesund. Da ist aber noch etwas, ein ganz spezielles Gefühl. Das Gefühl, wertgeschätzt zu werden. „Ein Mitarbeiter soll spüren, hier wird auf mich geachtet, mein Arbeitsplatz ist angemessen auf mich eingerichtet“, erklärt Gröschel und führt uns stolz durch die Produktionshallen, wo er ebenso auf höhenverstellbare Schraubstöcke und Hebehilfen setzt. Mit all diesen Maß- nahmen möchte er sein Ziel erreichen, dass seine Mitarbeiter morgens mit guter Laune in die Firma kommen und Spaß an der Arbeit haben. „Das Business, in dem wir sind, ist hart genug, der hohe Termin- und Kostendruck ist enorm. Wer in der Automotive Industrie derart erfolgreich sein will, der braucht hochmotivierte Mitarbeiter“, so der Geschäftsführer, der ursprünglich aus Deutschland kommt und internationale Erfahrungen gesammelt hat. Ein gutes Betriebsklima sei für ihn das höchste Gut, das es zu schützen gilt. „Alles, was wir zur Gesundhaltung des Teams machen können, setzen wir um.“
Langfristiger Nutzen
Die Gleichung ist also einfach. Mitarbeiter, die sich wohl und wertgeschätzt fühlen, bedeuten mehr Leistung. Stellt sich nun die Frage, wie hoch die Rechnung tatsächlich ist. „Ich werde ganz schwer eine Rechnung aufstellen können, mit der ich ausdrücke: Das sind die 100.000 Euro, die mich die ergonomische Einrichtung gekostet hat und das ist der Gegenwert. Diese Rechnung fange ich gar nicht an“, sagt Gröschel. Wolfgang Miniberger kennt die Rechnung: „Ein guter manuell verstellbarer Tisch kostet um die 500 Euro mehr als ein Standardtisch. Aber wenn ein Mitarbeiter einen Tag ausfällt oder wegen Rückenschmerzen in Krankenstand geht, kostet das auch circa 300 Euro pro Tag. Und wenn der Mitarbeiter immer schlimmere Beschwerden bekommt oder drei Wochen auf Kur fährt, dann erkennt man, wie schnell sich so eine Investition lohnt.“ Wichtig sei, die Ge- samtsituation zu betrachten. Genau das passiere aber im Alltag selten. Er spüre dennoch deutlich, dass immer mehr Firmeninhaber beginnen, langfristig und nachhaltiger zu denken und mehr in die Mitarbeiter investieren wollen.
Alter Trend neu umgesetzt
Zurück ins Büro von Doris Breuer. Ein neuer Arbeitstag, ein neuer Versuch, sämtliche Störquellen auszublenden und sich auf die Arbeitsaufgaben zu kon- zentrieren. Die müden Augen locken sie in die Teeküche, wo sie sich einen Kaffee macht. Man könnte es Pause nennen, in Wahrheit passiert in einer Teeküche aber viel mehr. „Erstens kommt der Körper durch das Gehen und Stehen in Bewegung, das weckt den Geist. Zweitens trifft man hier zumeist auf andere Kollegen und nicht selten kommt es vor, dass in einer Teeküche die besten Ideen geboren werden“, erzählt Miniberger. Die- sem Phänomen widmet sich die moderne Büroarchitektur – die sogenannten Lounge-Bereiche sind eine Renaissance der früheren Teeküche. „Das sind Kommunikationszentren, die zum Kreativsein einladen, weil sie eine willkommene Abwechslung zum Schreibtisch sind“, so der Ergonomie-Experte. Als Doris Breuer zurück in ihr Büro geht, trifft sie auf Herrn Truetsch, der gerade dabei ist, den Arbeitsplatz unter die Lupe zu neh- men. Ihr Firmenchef habe beschlossen, sämtliche Arbeitsplätze ergonomisch auszurichten, erklärt er der jungen Mit- arbeiterin. „Klingt gut“, denkt sie sich. Und noch bevor irgendeine Veränderung an ihrem Arbeitsplatz passiert, spürt sie eine Veränderung in sich. Das gute Gefühl, dass ihrem Arbeitgeber etwas daran liegt, dass sie sich wohlfühlt._
Tipp
Ergonomie und Design
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