Sie war eine von 130. Heute ist sie eine von elf.Marlene Stocker(Name von der Red. geändert), frisch gebackene Uni- Absolventin, 24 Jahre, hat im Moment nur ein Ziel vor Augen: Sie möchte unbedingt eine Karriere bei genau diesem Unternehmen mit hervorragendem Namen in der Werbebranche starten. Zunächst hat sie mit ihren Bewerbungsunterlagen und einem ausführlichen Telefon-Interview überzeugt – ebenso wie zehn andere Bewerber. Nun kommt sie mit leicht erhöhtem Puls, perfekt gekleidet im Business-Kostüm und voller Tatendrang zum österreichischen Hauptsitz der Firma im Welser Zentralraum. Hier wird sie einen ganzen Tag verbringen, um bei einem ausführlichen Assessment Center ihr Potenzial unter Beweis zu stellen. „Bei einem Assessment Center geht es vor allem darum, verschiedene Fähigkeiten der Bewerber kennen zu lernen: Kommunikation, Kontaktfreude und Auftreten, soziale Kompetenz und Teamfähigkeit, Selbstkonzept und Belastbarkeit, Projektmanagement und Arbeitsorganisation, Kreativität sowie analytisches und konzeptionelles Denkvermögen“, erklärt Anna Hundstorfer, Expertin für Talent Management. Sie arbeitet bei der Firma Deloitte im Bereich Human Capital Consulting und hilft Kunden dabei, die optimalen Mitarbeiter zu finden.
Marlene Stockers Puls läuft auf Hochtouren ... nach einer kurzen Vorstellung des Unternehmens, sollen nun alle Bewerber vor der Gruppe in ein paar Worten über sich erzählen. Zwanzig Minuten später beginnt auch schon die erste Gruppenübung. Es geht darum, in einer halben Stunde einen Turm aus Papierzetteln zu konstruieren. Wobei es eigentlich vielmehr darum geht, sein Verhalten in der Gruppe zu zeigen. Während die fünf Bewerber also angeregt diskutieren, wie man das Papier zu- schneiden muss, damit das Kunstwerk am höchsten und gleichzeitig stabilsten gebaut werden kann, achten drei Beobachter darauf, wie sich die einzelnen Gruppenmitglieder in das Teamwork einbringen: Wer übernimmt die Führungsrolle? Wer packt an? Wer bringt Ideen ein? Wer hat den Überblick? Wie reagieren die Personen aufeinander? Wobei es im ersten Moment nicht darum geht, jemanden zu beurteilen, sondern lediglich, ein authentisches Bild zu bekommen. Denn es ist eine Sache, in seinen Bewerbungsunterlagen anzugeben, man sei dafür geschaffen, in einem Team zu arbeiten und Weltklasse im Kreativsein. Und eine ganz andere, das einen Tag lang durch sein Verhalten zu demonstrieren. Das ist auch der Grund, warum das Auswahlverfahren „Assessment Center“ vor allem bei Positionen im Führungsbereich eingesetzt wird.
Kompetenzen entdecken
Marlene Stockers Puls hat sich mittlerweile ein wenig beruhigt. „Die Anspannung lässt nach, sobald man mit den anderen Bewerbern ins Gespräch gekommen ist. Auch wenn wir natürlich eigentlich Konkurrenten sind, sitzen wir heute ja doch im selben Boot“, so die Wienerin mit oberösterreichischen Wurzeln. Viel Zeit zum Reden bleibt aber nicht, denn schon steht sie vor der nächsten Herausforderung: einer Re- flexionsübung, in der sie ihre Gedanken über die eben gemachte Gruppenübung in einem kleinen Aufsatz zusammenfassen muss. Danach hat sie fünfzehn Minuten Zeit, sich für eine zehnminü- tige Selbstvorstellung vor zwei Asses- soren vorzubereiten. In einem kleinen Besprechungsraum erzählt Marlene Stocker über ihre persönlichen Stärken und Talente, über ihre Motive für einen Berufseinstieg im Bereich Marketing, ihre Ausbildung und ihre Zielsetzungen. Danach stellen die beiden Beobachter jede Menge Fragen. Das wusste sie im Vorhinein. Was sie nicht wusste: Dass sie einen Teil dieser Fragen auf Englisch beantworten soll. Kaum hat sie den Besprechungsraum verlassen, machen sich die beiden Beobachterinnen daran, die Anforderungen an die Teilnehmerin mithilfe eines Punktesystems zu bewerten.
Wieder einmal fällt Marlene Stocker ein Stein vom Herzen. Es ist mittlerweile nach Mittag, sie gönnt sich einen Kaf- fee und zwei Brötchen am Buffet, das den Teilnehmern jederzeit zur Verfü- gung steht. Immerhin kann sie ein wenig Stärkung gebrauchen, steht doch als Nächstes die Vorbereitung einer Casestudy auf ihrem Terminkalender, deren Rahmenkonzept sie nach 45 Minuten wieder vor zwei Beobachtern präsentieren muss. „In Fallbeispielen wird vor allem das analytische und konzep- tionelle Denkvermögen der Teilnehmer hinterfragt“, erklärt Anna Hundstorfer. Dabei komme es weniger darauf an, die perfekte Lösung zu finden, als vielmehr Dinge zu hinterfragen, logische Schlüsse zu ziehen und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Echtheit überzeugt
Nach einem kurzen Tratsch am Buffet mit anderen Teilnehmern, muss Marlene Stocker einen Excel-Test machen. „Oh Gott, ich denke, dabei ging es wohl darum, meine Belastbarkeit zu testen“, sagt sie und schmunzelt. Denn dieser Test sei unglaublich schwierig gewesen. Doch nun neigt sich der Tag auch schon dem Ende zu, nur noch eine letzte Übung steht am Programm: Die elf Teilnehmer werden in zwei Gruppen geteilt und müssen zum Thema „Wie man eine Marketingstrategie perfekt umsetzt“ diskutieren. Dabei werden von den Beobachtern wieder Kommunikation, Kontaktfähigkeit und Auftreten sowie soziale Kompetenz und Teamfähigkeit beobachtet. Ob sich nun schon gewisse Favoriten herauskristallisiert haben? „Natürlich können sich die Beobachter nach den Übungen schon ein sehr gutes Bild von den einzelnen Bewerbern machen und haben daher gewisse Präferenzen. Aber zu einer Entscheidung kann das jeweilige Unternehmen erst im Anschluss bei einer gemeinsamen Analyse aller Bewerber kommen, wenn alle Beobachtungen über die Teilnehmer zusammengefügt werden“, so Hundstorfer. Ein Jahr später in der Abteilung „Strategisches Marketing“ bei dem Welser Unternehmen. Nein, Marlene Stocker sitzt hier nicht an einem der Plätze. Die Entscheidung fiel damals auf zwei an- dere Bewerberinnen. Das Assessment Center blieb ihr dennoch in guter Erinnerung. „Es war ein sehr spannender Tag, der mir viel gebracht hat. Einerseits bekam ich einen interessanten Einblick in die Firma, andererseits konnte ich mit dem Feedback über meine Teilnahme sehr viel anfangen“, erzählt sie. Und noch etwas ist ihr von jenem Tag geblieben – der Kontakt zu Rita Huber (Name von der Red. geändert). Sie hatte sich damals gemeinsam mit einer weiteren Bewerberin durchgesetzt und konnte nun in ihrem ersten Jahr viele Erfahrungen – darunter auch internationale – sammeln. „Das ist genau der Job, der zu mir passt“, schwärmt die 30-Jährige. Wobei sie gerne ihren Verantwortungsbereich erweitern möchte. „Das Potenzial der Mitarbeiter zu erkennen und zu fördern, das ist eines der Geheimnisse von erfolgreichen Unternehmen“, sagt Sabine Griesser, Senior Consultant im Bereich Human Capital bei Deloitte. Dieses Potenzial zu erkennen, sei aber nicht immer einfach. „Ein sehr gutes Instrument dazu ist die Potenzialanalyse“, so Griesser. „Wobei es nicht in unserem Sinn ist, unseren Kunden einfach ein Testverfahren anzubieten. Wir sehen das vielmehr als begleitenden Prozess, abgeleitet von der Zielsetzung und Strategie.“
"Das Potenzial der Mitarbeiter zu erkennen und zu fördern, das ist eines der Geheimnisse von erfolgreichen Unternehmen."
Sabine GriesserSenior Consulant bei Deloitte
Topleute erkennen
Eine Potenzialanalyse könne zum Einen dafür genutzt werden, Talente im Unternehmen bestmöglich einzusetzen und Entwicklungsmaßnahmen abzuleiten als auch neue Mitarbeiter zu finden. Wichtig sei, dass es nie nur ein Test ist, sondern ein zweistufiges Verfahren, das sowohl Selbst- als auch Fremdbild beinhaltet. „Der Test ist das Ergebnis dessen, wie man sich selbst sieht und wie man denkt, dass man in bestimmten Situationen reagiert. Ergänzt wird dies dann mit einem Fremdbild durch ein persönliches Interview oder auch durch ein Assessment Center“, erklärt die Beraterin. Es gibt verschiedene wissenschaftlich fundierte Testverfahren, die eingesetzt werden können - abgestimmt auf die jeweilige Ausgangssituation und die Kompetenzbereiche, die beurteilt werden sollen. Das Ergebnis des Testes sei aber kein Wert wie ein Intelligenzquotient, sondern eine soge- nannte Standortbestimmung, die zeigt, wo man sich zum aktuellen Zeitpunkt befindet und auch seine Kompetenzen sichtbar macht. Und damit ist ein Test als Teil einer Potenzialanalyse nie einer, bei dem man bestehen oder durchfallen kann, sondern vielmehr eine Erfassung des per- sönlichen Profils. Und auch wenn es im ersten Moment nicht den Anschein macht, so bedeutet auch das Durchfallen bei einem Assessment Center kein Versagen. Für Marlene Stocker ist heute klar, dass sie nicht zu 100 Prozent glücklich geworden wäre in dem Job. Weil er sich nicht deckt mit ihren Stärken, Vorlieben und Entwicklungsmöglichkeiten. Und so ist es für beide Seiten – für den Bewerber als auch für das Unternehmen – von Vorteil, wenn man Zeit und Energie in die Auswahl des Arbeitsplatzes oder des Mitarbeiters steckt. Am Ende kommt dadurch mehr heraus: Mitarbeiter, die sich wohl und richtig eingesetzt fühlen und damit nicht daran denken, die Firma zu wechseln. Sondern vielmehr ihr volles Potenzial darin ausschöpfen._
Kluge Entscheidung?
Sowohl interne Beförderungen als auch die Auswahl neuer Mitarbeiter entpuppen sich immer wieder als Fehlentscheidung. Und das kostet nicht nur Zeit und Nerven, sondern auch Geld. Die Entscheidung zur Neubesetzung einer Stelle sollte also gut durchdacht sein. Denn nur Mitarbeiter, die gemäß ihrem Potenzial eingestellt werden, können zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Es geht also darum, genau dieses Potenzial der Mitarbeiter oder Bewerber zu erkennen, fördern und einzusetzen. Ein gut geeignetes Mittel dafür ist die Potenzialanalyse.