Komm, zeig dich!
Einmal unter den Unsichtbarkeitsmantel aus den Harry-Potter-Büchern zu schlüpfen … ein Traum vieler Kinder. Diesen Traum leben heute unzählige Frauen. Der so lieblich klingende „Unsichtbarkeitsmantel“ wurde jedoch zum nicht ganz so lieblich klingenden „Gender Gap“. Im Beruf, in der Medizin, in der Forschung … erleben Frauen Benachteiligung. Carolin Anne Schiebels Antwort darauf: „Let’s get visible!“ Genau das hat sich die Keynote-Speakerin und Coachin zu ihrer Mission gemacht: Frauen unter dem Unsichtbarkeitsmantel hervorzuholen. Und zwar alle. Ein Interview mit einer Sichtbarmacherin.
„Bitte entschuldige, ich muss schnell noch diese Instagram-Story posten“, meint Carolin, als sie in unserem Büro Platz nimmt. Ein Satz, der so banal klingt, der aber so viel über die 44-Jährige aussagt. Zum einen verdeutlicht er, wie Carolin sich selbst und ihr Business sichtbar macht: auf Social Media. Mit Stories, in denen ihr Publikum sie in ihrem Alltag begleitet – aktuell: bei der Organisation ihres Festivals. (Ja, wir schauen ihr gerne dabei zu, wie sie die Sessel, auf denen die Gäste sitzen werden, aussucht.) Zum anderen, und das wird uns erst im Laufe des Interviews bewusst, zeigt diese Aussage, wie wichtig es für Carolin ist, dass auch andere sich gesehen fühlen. In diesem Fall wir, die wir auch ohne ihre rücksichtsvolle Art gerne gewartet hätten, bis sie sich uns widmet. Doch so fühlen wir uns gesehen und wertgeschätzt. Ein schönes Gefühl.
Carolin, was bedeutet für dich Sichtbarkeit?
Carolin Anne Schiebel: Sichtbarkeit bedeutet für mich, dass Frauen sich nicht hinter ihren Leistungen verstecken. Viele Frauen leisten sehr viel in ihrem beruflichen und privaten Leben, aber wir sind es oft gewohnt, die Dinge herunterzuspielen. Sichtbar zu sein bedeutet für mich, mutig zu zeigen, wer ich bin, was ich mache und was ich kann. Und mich dann auch so auf dem Markt zu präsentieren, um meine Arbeits- und Jobchancen zu verbessern. Dazu möchte ich Frauen mit dem Festival einen Anstupser geben, denn vielen Frauen fällt es schwer, sich zu zeigen.
Hast du dich schon mal unsichtbar gefühlt?
Carolin Anne Schiebel: Es gab sicher viele Phasen in meinem Leben, in denen ich mich unsichtbar gefühlt habe. Mehr oder weniger bewusst, weil ich mich mit dem Thema Sichtbarkeit damals nicht beschäftigt habe. Sei es, wenn ich in einem Unternehmen gearbeitet habe und nur Aufgaben bekam, für die ich überqualifiziert war, oder auch zu Beginn meiner Selbstständigkeit als Fotografin vor zehn Jahren. Da gab es auch Phasen, in denen ich dachte: „Hey, ich mache doch so tolle Arbeit, aber bekomme zu wenig Kundschaft.“
Wieso ist denn Sichtbarkeit für Frauen so wichtig?
Carolin Anne Schiebel: Erstens: für den persönlichen Werdegang. Wer gesehen wird, bekommt mehr Chancen, kann sich weiterentwickeln. Der zweite Punkt, und der ist auch ein Teil der Sichtbarkeit, ist das Netzwerk, das ich dadurch aufbaue. Und das ist sowohl beruflich als auch im Privaten essenziell. Das habe ich gerade bei der Organisation des Festivals gemerkt. Wir brauchen Menschen, die uns bei der Hand nehmen, die uns einen Vertrauensvorschuss geben, die uns unterstützen. Und der dritte Grund für die Wichtigkeit von Sichtbarkeit ist das eigene Selbstbewusstsein, das eigene Wohlbefinden. Es ist tief in uns verwurzelt, dass wir uns wertvoll fühlen, wenn wir uns gesehen fühlen. Genauso wie es für Kinder wichtig ist, gesehen zu werden, ist es das auch für Erwachsene.
Aber braucht man nicht schon Selbstbewusstsein, um sich überhaupt sichtbar zu machen?
Carolin Anne Schiebel: Selbstbewusstsein entwickelt sich nur über Mut. Du musst immer einen Schritt ins kalte Wasser machen. Das geht nicht anders. Und je öfter du das machst, je öfter du erfolgreich damit bist, vielleicht auch jemand sagt: „Gut gemacht!“, umso mehr wächst dein Selbstbewusstsein.
Das Sich-Zeigen und auch das Netzwerken sind Dinge, die Männern scheinbar leichter fallen. Wieso, denkst du, ist das so?
Carolin Anne Schiebel: Ich denke, das hat ganz viel mit unserer Sozialisierung zu tun. Über viele, viele Generationen war es schon immer so, dass Männer mit Sätzen wie „Männer weinen nicht. Männer sind stark.“ erzogen wurden, während Frauen die Zarten, Zerbrechlichen waren. Und auch wenn die Erziehung heutzutage anders aussieht, sind das Glaubenssätze, die tief in uns verankert sind. Wir Frauen sind dadurch vorsichtiger, gehen nicht so leicht nach außen.
Wollen denn alle Frauen sichtbar sein?
Carolin Anne Schiebel: Ich glaube, viele beschäftigen sich gar nicht damit, ob sie sichtbar sein wollen oder nicht. Wenn ich Instagram-Umfragen mache, merke ich, dass vielen gar nicht bewusst ist, dass die Frau noch nicht gleichberechtigt ist. Das ist aber so. Da braucht es eine Bewusstmachung. Mir ging es ähnlich. Erst als ich angefangen habe, mich mit den Themen zu beschäftigen, ist mir aufgefallen, wo wir überall noch hinterherhinken. Und dass es sich wirklich lohnt, dafür loszugehen. Das Zweite, was ich immer wieder von Frauen höre, ist: „Mir reicht es, wenn ich in der zweiten Reihe stehe.“ Meine Antwort ist dann: Gut so, wir können nicht alle in der ersten Reihe stehen und Wortführerinnen sein, aber trotzdem ist es auch wichtig, in der zweiten und dritten Reihe sichtbar zu sein. Und auch dort Herrin des eigenen Lebens zu sein, stark und selbstbestimmt zu sein.
Auf Social Media sieht man aktuell vermehrt die „Trad-Wives“, also Frauen, die den Lebensstil der traditionellen Hausfrau leben und auf Social Media zelebrieren. Wie siehst du diese Bewegung?
Carolin Anne Schiebel: Die „Trad Wives“-Bewegung präsentiert auf Social Media ein idealisiertes Bild der Hausfrau aus den 1950er Jahren: Frauen, die sich komplett der Familie und dem Haushalt widmen und dabei stets makellos erscheinen. Sie propagieren traditionelle Werte wie Familie und Fürsorge, und der Rückzug aus der modernen Arbeitswelt wird als der Weg zu einem erfüllteren Leben dargestellt. Doch dieses Bild ist oft irreführend. Viele dieser Frauen sind Influencerinnen, die über erhebliche finanzielle Mittel verfügen und Unterstützung durch Teams, Nannies oder Haushaltshilfen haben. Erfolgreiche „Trad Wives“ wie Hannah Neeleman und Nara Smith verdienen Hunderttausende Dollar durch Social Media. Das Leben, das sie vorgeben zu führen, ist für viele Frauen ohne dieselben Ressourcen schlicht nicht erreichbar. Der Kern dieser Bewegung ist nicht die Rückkehr zu „echten“ Werten, sondern eine kommerzialisierte, idealisierte Version der Hausfrauenrolle, die eher zur Vermarktung genutzt wird.
Denkst du, dass solche Gegenbewegungen uns au alten, den Schritt Richtung Gleichberechtigung zu machen? Oder vielleicht sogar einen Schritt zurück bedeuten?
Carolin Anne Schiebel: Solche Bewegungen können tatsächlich einen Rückschritt in der Gleichberechtigung bedeuten. Indem sie traditionelle Rollenbilder fördern, wird die Eigenständigkeit von Frauen untergraben, und sie riskieren, wieder stärker in finanzielle und gesellschaftliche Abhängigkeit zu geraten. Was besorgniserregend ist, sind die steigenden Followerzahlen dieser „Trad Wives“. Trotz des unrealistischen Bildes, das sie zeichnen, gibt es viele Frauen, die sich davon angesprochen fühlen. Hier liegt die Herausforderung: Wir müssen darauf vertrauen, dass die meisten Zuschauerinnen erkennen, wie wenig authentisch dieses Leben wirklich ist. Doch die große Popularität zeigt, dass diese Rückwärtsbewegung für viele durchaus attraktiv wirkt. Das birgt die Gefahr, dass Frauen dazu verleitet werden, Errungenschaften der Gleichberechtigung aufzugeben, was langfristig einen erheblichen gesellschaftlichen Rückschritt bedeuten könnte.
Kann es sein, dass oft auch die Befürchtung mitschwingt, sich „männlicher“ geben zu müssen, um sichtbar zu sein? Diese vermeintlich maskulinen Eigenschaften wie Dominanz und Durchsetzungskraft zu verkörpern?
Carolin Anne Schiebel: Genau das ist der Punkt: Wir müssen nicht „männlich“ werden. Es ist gerade so wichtig, dass wir unser feminines Potential, die Emotionen, die soziale Stärke und Empathie leben. Studien zeigen, dass Mitarbeitende sich empathische Führungspersönlichkeiten wünschen. Und diese Superpower wird immer wichtiger.
Häufig sind es auch die Frauen untereinander, die sich im Weg stehen. Stichwort „Stutenbissigkeit“…
Carolin Anne Schiebel: Genau. Das heißt, es ist ein doppeltes Problem. Das eine Problem, das wir haben, ist der „Thomas-Kreislauf“: Männer verlassen sich gerne auf ihresgleichen und holen eher Geschlechtsgenossen in die Führung. Und dann kommt eben noch dazu, dass Frauen nicht gerne Frauen nach oben holen, weil sie um ihre eigene Sichtbarkeit oder ihre eigene Position fürchten. Genau deshalb ist es wichtig, dass wir Frauen umdenken, dass wir uns gegenseitig unterstützen, anstatt neidisch zu sein. Denn jede wird gebraucht. Natürlich ist das schwierig, und ich erwische mich selbst auch bei dem Gedanken: „Wieso hat die den Job bekommen und ich nicht?“ Aber ich wünsche mir, dass wir da alle ein bisschen bewusster hinschauen. Dass wir, wenn wir einen Funken von Neid verspüren, bewusst dagegen angehen und sagen: „Stopp, so möchte ich nicht denken.“ Und uns dann bewusst anders verhalten. Vielleicht stattdessen ein Kompliment machen.
Kam daher die Idee für „Let’s get visible“?
Carolin Anne Schiebel: Genau. „Let’s get visible“ ist ein Netzwerk, das sowohl online als auch offline aktiv ist. Bei unseren Liveevents können Frauen direkt miteinander in Kontakt treten. Während der Pandemie habe ich festgestellt, dass persönliche Interaktion unersetzlich bleibt. Trotz der Möglichkeiten, sich über Zoom oder Teams zu treen, ist der direkte Austausch viel bereichernder. So ist die Idee entstanden. Ich habe mit Sichtbarkeits-Workshops gestartet, bei denen Frauen viel voneinander gelernt haben, und dann immer größere Veranstaltungen geplant, bei denen der Fokus auf persönlichem Networking liegt. Es gibt immer einen Rahmen mit aktuellen Themen und natürlich Zeit, dass die Teilnehmerinnen sich ungezwungen austauschen können. Zusätzlich kommt dann noch die Inspiration durch Rolemodels hinzu, die ihre Erfahrungen teilen und Mut machen. Das ist die Magic: Menschen begegnen Menschen und lernen voneinander, ohne großen Aufwand und mit viel persönlichem Austausch. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich so eine Kraft entwickelt, wenn viele Frauen beisammen sind. Es ist einfach ein schönes Erlebnis, sich gegenseitig zu stärken.
Networking ist den meisten Unternehmerinnen nicht fremd, aber „Let’s get visible“ soll nicht nur diese ansprechen. Wie schaffst du es, alle „Gruppen“ von Frauen zu erreichen?
Carolin Anne Schiebel: Das ist tatsächlich eine Herausforderung. Wo ich ansetze? Bei den Unternehmen. Indem ich ihnen klar mache, welchen Wert es hat, wenn sie ihre Mitarbeiterinnen mitnehmen. Das Festival ist wirklich ein Geschenk für die Frau, persönlich und beruich eine Stärkung. Es soll auch keine VIP-Veranstaltung sein. Wir haben ja parallel den „Let’s get visible“-Podcast, wo wir auch Frauen vorstellen, deren Fokus nicht in der Öffentlichkeit ist. Rolemodels in ihren eigenen Bereichen. Mir ist es wichtig, auch diesen Frauen eine Bühne zu geben.
Zum „Let’s get visible“ sind explizit auch Männer eingeladen. Welchen Beitrag können die Männer leisten?
Carolin Anne Schiebel: Es ist ganz wichtig, dass die Männer sich der Themen bewusst werden, sich reinfühlen und die tatsächlichen Unterschiede und Missstände sehen. Wir Frauen brauchen Männer, die Verständnis haben. Die diesen „Thomas-Kreislauf“ durchbrechen. Zudem ist es auch wichtig, aufzuzeigen, dass Female Empowerment gleichzeitig Male Empowerment bedeutet. Wenn Frauen ihr volles Potential leben dürfen und gleichberechtigt sind, dann profitiert auch der Mann davon. Denn wer hat gesagt, dass der Mann immer stark sein will? Immer der Brotbringer zu Hause sein muss? Durch die Frauenförderung findet eine gesellschaftliche Förderung statt, weil auch der Mann dadurch vielleicht ein bisschen entspannen darf. Wir wissen mittlerweile auch, dass gemischte Teams mehr weiterbringen als eingeschlechtliche Teams. Es ist wichtig, zu betonen, dass Feminismus nicht bedeutet, gegen Männer zu sein, sondern mit den Männern. Feminismus heißt nicht, dass wir Männer ausschließen oder über sie hinauswachsen wollen. Wir wollen Gleichberechtigung._
# Gedankensprung
mit Carolin Anne Schiebel
Wenn ich einen Tag als Mann leben könnte, würde ich_mein jetziges Leben als Mann weiterleben und es nutzen, um die männliche Sichtweise zu sehen und so mehr Männer an Bord für Female Empowerment holen zu können.
Achtung Klischee-Denken: Das können sich Frauen von Männern abschauen_ Selbstbewusst dastehen und sagen: Das bin ich.
Als Kind träumte ich davon_Prinzessin zu werden.
In 10 Jahren möchte ich_in dem, was ich tue, noch viel bewirken.
INFOBOX
Das „Let‘s get visible“-Festival findet am 22.11.2024 im Brucknerhaus statt. Was dich erwartet? Ein inspirierender Tag voller Weiterbildung, Motivation und authentischem Austausch.
Hier geht‘s zum Programm und den Tickets: letsgetvisible.at
Redaktion
Fotos
Ines Thomsen, Karin Schwarz