
Wie man eine Apotheke neu erfindet
Rezept herzeigen, Tabletten abholen und wieder rausgehen. So könnte ein Besuch in der Saint Charles Apothecary aussehen. Tut er aber meistens nicht. Wer eine der Filialen besucht, findet sich auf einer Entdeckungsreise zwischen Kräutern und Kapseln wieder –
und mit der Erkenntnis: Gesundheit ist mehr als Symptombekämpfung.
Sie ist immer noch da. Ganz oben, über den Apothekerregalen. Die Heilige Dreifaltigkeit. Nach ihr war die Apotheke in der Gumpendorferstraße in Wien früher benannt (seit 1886), heute ist es der heilige Karl, der hier zuhause ist. Aber den sieht man nicht als Figur, präsent ist er dennoch. Oder besser gesagt „sie“, die Marke Saint Charles Apothecary – nicht nur hier in Wien, auch in Salzburg, Linz, Berlin, Dornbirn, Antwerpen und München. Und ja, wer sich gerade daran erinnert, der Marke auch schon in diversen Spas, Premiumhotels oder Yogastudios begegnet zu sein, hat natürlich recht – sie ist tatsächlich allgegenwärtig. Jedenfalls dort, wo das Konzept der ganzheitlichen Sichtweise dazupasst.
Heute treffen wir uns in Wien, zwischen Naschmarkt und Mariahilfer Straße, im Stammhaus von Saint Charles. Da, wo alles begann. „Ich bin ein Apothekerkind und habe schon als kleiner Junge traditionelle Rezepturen mit meinem Vater hergestellt“, erzählt Alexander Ehrmann. Er ist Apotheker in sechster Generation, 2006 übernahm er die Apotheke „Zur Heiligen Dreifaltigkeit“. Die Vision von damals verglichen mit jener von heute „hat sich natürlich ziemlich verändert“, erzählt
Alexander. „Am Weg zur Vision wird dir relativ schnell bewusst, was deine Stärken sind und was du einfach nicht kannst. Und deshalb sitzen wir hier heute nebeneinander“, sagt er und deutet mit seinem Kopf zu Richard König – Co-Gründer und CEO der Saint Charles Apothecary. „Richard kann Dinge, die ich nicht kann, und umgekehrt. Im Pharmaziestudium hörst du nie etwas von Betriebswirtschaft oder darüber, worum es bei Social Media geht. Und so können wir uns sehr gut ergänzen.“
Es brennt
Wer sich unter einer Apotheke übrigens so etwas wie eine halbstaatliche Medikamentenvergabestelle vorstellt, der wird hier verwundert sein. „Wir haben daraus schon etwas ganz anderes gemacht“, erklärt Alexander. Und ja, das fällt schon auf, bevor man überhaupt die Tür öffnet. Davor steht eine Tafel mit dem Spruch von David Mamet: „Always tell the truth: It‘s the easiest thing to remember.“ Das könnte schon der erste Hinweis darauf sein, dass man hier an einem Ort gelandet ist, wo man tiefer blickt als nur auf die Oberfläche. Zuallererst blickt man aber beim Reingehen auf ein beeindruckendes Stück Geschichte: Geblieben sind nämlich die Apothekerschränke aus der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie. „Allerdings nicht nur als Zeitzeugen, sondern vielmehr als Symbol für die Verbindung einer Jahrhunderte alten Tradition mit modernem Lebensstil.“ Einer der Sinnsprüche von Saint Charles ist schließlich: „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern das Weiterreichen des Feuers.“
Dieses leidenschaftliche Feuer brennt bei Alexander und Richard für ein neues und innovatives Verständnis, wie die Tradition der Naturheilkunde und des Apothekertums neu interpretiert werden kann. „Wir sitzen in Europa auf einem Schatz an überliefertem Wissen aus der Naturheilkunde, wir müssen diesen nur nutzen und mit modernen Erkenntnissen kombinieren.“ Damit meint er die TEM, die sogenannte Traditionell Europäische Medizin. Auf dieser holistischen Lehre basieren die Eigenprodukte von Saint Charles. „DieTEM sieht Krankheit als ein verlorenes Gleichgewicht von Körper, Geist und Seele“, erklärt Alexander. Erhaltung und Wiederbelebung des gesunden Gleichgewichts könne durch Ernährung und gute Lebensführung in Kombination mit natürlichen Heilmitteln erfolgen. Es steht also nicht nur ein einzelnes Organ, sondern das gesamte Körpersystem im Mittelpunkt. „Am Ende des Tages sind wir hier aber auch eine Apotheke und lehnen die Schulmedizin nicht ab – im Gegenteil, wir glauben, dass die TEM eine äußerst wirkungsvolle Ergänzung zur Schulmedizin ist.“ Dafür Verständnis zu schaffen, dazu sei die Apotheke der richtige Platz: „Eine Apotheke ist ja ein wahnsinnig demokratischer Ort – der einzige, wo du ohne Voranmeldung, so lange du willst, eine akademische Fachkraft gratis in Anspruch nehmen kannst.“
Es geht um mehr als Tropfen und Kapseln
Gut, dass wir uns nicht nur zu einer Liftfahrt getroffen haben, das Konzept von Saint Charles lasse sich nämlich nicht in zehn Sekunden in einem Elevator Pitch erfassen, sagt Richard. Aber dennoch mal kurz zusammengefasst: Es sind zwei Gesellschaften. Zum einen die Apotheken, wo die Traditionelle Europäische Medizin, kompetente Beratung sowie die Tradition des Apothekers im Vordergrund stehen. Neben der Produktentwicklung zählt zu den Hauptaufgaben auch der Vertrieb über die Stores, online und die Vertriebspartner sowie die Betreuung von Hotelpartnern. Zum anderen die Mono-Brand-Stores – wo das Erlebnis die Hauptrolle spielt: „Hier kann man in einen Ort des Wohlbefindens, der Kräuterheilkunde und des Genusses eintauchen“, erklärt Richard. In beiden Fällen trifft man auf Menschen, die dafür brennen, die Kundinnen und Kunden auf ihrer Reise zur ganzheitlichen Gesundheit zu begleiten. „Unsere Kolleginnen und Kollegen lieben, was sie tun. TEM wird bei uns in drei Teilen gelebt: Der erste Teil ist die Welt der Heilkräuter, wo es Tees, Massageöle und Nahrungsergänzungsmittel gibt; dann ist da die Welt der Naturkosmetik, von Gesichtsprodukten bis zu Massageölen; und die dritte Welt ist die Aromatherapie. Das sind die drei großen Bereiche mit Überlappungen – ergänzt von weiteren Produkten wie Parfum oder Gin.“ Was den beiden Gründern dabei wichtig ist: „Wir begleiten die Menschen. Es geht nicht um sieben Kapseln oder Tropfen – es geht um die wirklich gute Beratung.“
Die Sache mit dem Darm
Alexander Ehrmann und Richard König wollen mit Saint Charles auch „gezielt inspirieren, Verantwortung für die eigene Gesundheit und das Wohlbefinden zu übernehmen“. Dazu setzen sie zunehmend auch auf ein Diagnostikangebot. Neben Vitamin-D-Testungen biete man neuerdings auch Darm-Mikrobiom-Tests an, sagt Richard. Das ist ein wissenschaftlich fundierter Test mittels moderner Next-Generation-DNA-Sequenzierung. Durch die Analyse von 1.500 Bakterienarten werden wertvolle Informationen über die individuelle mikrobielle Zusammensetzung gewonnen, analysiert und ausgewertet. Darunter der Zustand der Darmschleimhaut oder die Beobachtung, wie die Darmbakterien das Immunsystem, das Körpergewicht, die Haut, die Gehirnfunktion oder Entzündungen beeinflussen. Wie wichtig die Rolle des Mikrobioms für die Gesundheit ist, sei den beiden schon lange bewusst. „Es hat einen Einfluss auf die Organe, die Hormonentwicklung, das Immunsystem sowieso.“ Das Mikrobiom sei ein gutes Beispiel für die Ursachenmedizin. „Bei einer Allergie etwa macht es wenig Sinn, immer Tabletten einzunehmen und den Stempel mit dieser oder jener Allergie zu bekommen. Man muss sich zuerst den Darm anschauen.“ Tests wie diese würden immer wichtiger werden, sind sich die beiden einig. In den USA gebe es sogar schon sogenannte Full-Body-Scan-Tests, die bereits 20 Jahre vor Ausbruch einer Krankheit Schwachstellen im Körper aufzeigen können. „Diese Tests kosten allerdings im Moment noch 18.000 Dollar, das ist noch nicht leistbar. Aber es ist ja meist so – Elektroautos waren anfangs auch immens teuer, heute fahren sie immer mehr.“
In fünf Jahren …
Ob solche Tests bereits in fünf Jahren für viele Menschen zugänglich sind, ist allerdings unklar. Das werden Alexander Ehrmann und Richard König wohl auch nicht beeinflussen können. Sehr wohl beeinflussen möchten sie aber die Gesamtbewegung in Richtung Gesundheitsbewusstsein: „Dass es eben nicht nur darum geht, Pillen einzunehmen, und es auch nicht allein die Ernährung ist, die Einfluss hat; es beginnt beim Kopf“, sagt Alexander. Außerdem möchten die beiden als Unternehmen ein kleiner Leuchtturm sein, „der zeigt, wie man Wirtschaft ein bisschen neu denken kann“. Und genau das scheint ihnen auch heute schon zu gelingen. Die Saint Charles Apothecary ist „B Corp“-zertifiziert. „B Corp“ steht für „Benefit for all“ und „Corporation“. „Das bedeutet, dass wir als Unternehmen einen Mehrwert für Gesellschaft und Umwelt leisten möchten.“_
Redaktion
- Susanna Winkelhofer
Fotos
Robert Koenig Media