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bleiben, sondern können nach der Intensivtherapie
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                                                                      Emotionalster Moment
                                                                      Doch leider geht es nicht immer gut aus. Zwei bis
                                                                      drei Kinder pro Jahr schaffen es nicht, den Krebs zu
                                                                      besiegen. Paulischin erinnert sich an ein Mädchen,
                                                                      das die Eltern mit nur 18 Monaten aufgrund eines
           Nachgefragt                                                Hirntumors gehen lassen mussten. „Und dann
                                                                      gibt es Menschen, die machen sich Sorgen, weil sie
                                                                      gerade 40 Jahre alt geworden sind. Das ist einfach
           „Der Pflegenotstand ist bereits Realität.“                 idiotisch“, schüttelt Paulischin den Kopf.

           Georgine Gattermayr ist Pflegedirektorin am Ordensklinikum   In seiner knapp zehnjährigen Berufslaufbahn ist
           Linz Barmherzige Schwestern. Im Interview macht sie deutlich,   ihm  ein  Moment  besonders  nah  gegangen.  „Das
           wie wichtig es ist, künftig mehr in die Pflege zu investieren.
                                                                      berührt mich immer wieder aufs Neue, wenn ich
                                                                      davon erzähle“, beginnt der Pfleger die Geschichte
           Die Pflegesituation ist sehr angespannt.                   von der damals sechsjährigen Marie (Name von der
           Befürchten Sie einen Pflegenotstand?                       Redaktion  geändert).  Das  Mädchen  litt  an  einer
           Georgine Gattermayr: Der Pflegenotstand ist bereits Realität, das   unheilbaren Erkrankung, durfte schon zu Hause bei
           kann man nicht mehr schönreden. Viele offene Stellen können   ihren Eltern behandelt werden. Im Zuge des externen
           mittlerweile nicht mehr besetzt werden, weil die Fachkräfte   Pflegedienstes sollte Paulischin zur Blutabnahme
           fehlen. Es macht mir Sorgen, wenn ich mir die demografische   vorbeikommen. Vor Ort war die Kleine dann aber
           Entwicklung ansehe. Die Menschen werden immer älter und der   schon ganz blass und die Sauerstoffsättigung viel zu
           Bedarf an Pflege entsprechend größer. Wenn es nicht gelingt,   niedrig. „Ich habe gemerkt, dass das Mädchen im
           genügend junge Menschen für einen Pflegeberuf zu motivieren,   Sterben liegt. Es war zu diesem Zeitpunkt schon
           werden wir die Leistungen, die von uns erwartet werden, nicht   nicht mehr wirklich bei Bewusstsein und durfte
           mehr erbringen können.
                                                                      schließlich zu Hause im Beisein seiner Eltern von
           Laut Studien denkt ein Fünftel der Pfleger:innen           uns gehen“, erinnert sich Paulischin.
           aufgrund der psychischen Belastung ans Aufhören.
           Wie kann man dem entgegenwirken?                           Erste Nahtod-Erfahrung
           Georgine Gattermayr: Pflegekräfte brauchen Rahmenbedingungen,
           die ihnen ermöglichen, ihre Arbeit zufriedenstellend und in   Wie der Linzer erfuhr, hatte Marie schon einige Zeit
           entsprechender Qualität zu leisten. Es herrscht ein enormer   davor eine Nahtod-Erfahrung gemacht. Dabei sagte
           Zeitdruck. Niemand möchte unter solch einem Druck arbeiten.   sie laut ihrer Mutter, sie sei gerade auf Hawaii auf
           Die daraus resultierende Fehleranfälligkeit führt zu großer   Urlaub gewesen und habe dort so schöne Pflanzen
           Unzufriedenheit. Das müssen wir in den Griff bekommen.     gesehen. Stunden vor ihrem  Tod, so erzählte
           Und natürlich müssen wir auch über Geld reden. Zu einer    die Mutter dem Pfleger, habe das Mädchen zur
           hochprofessionellen Arbeit gehört eine adäquate Bezahlung. Wir   Mama gesagt, sie solle die Oma und alle anderen
           alle müssen entscheiden, von wem und in welcher Qualität wir im
           Krankheitsfall oder im Alter betreut werden wollen.        Angehörigen holen, weil sie gehe jetzt bald wieder
                                                                      nach Hawaii … „Die Mutter der kleinen Marie hat

           Warum ist es so wichtig, eine Ausbildung                   mir eine Karte geschrieben und betont, wie wichtig
           als Pfleger:in zu starten?                                 meine Unterstützung für sie und die gesamte Familie
           Georgine Gattermayr: Die Pflege ist der Beruf der Zukunft und bringt   war. Sie meinte, ich sei wie eine Hebamme, nur im
           ein hoch spezialisiertes und differenziertes Aufgabenspektrum   umgekehrten Sinn, gewesen“, schildert Paulischin
           mit sich. Sie spielt eine zentrale Rolle bei der Begleitung von   die emotionalen  Worte und sagt: „In diesem
           Menschen, und zwar von der Geburt bis zum Tod. Jugendliche,   Moment wusste ich, ich habe etwas Gutes getan.
           die diesen Weg einschlagen, werden umworben und können sich   Und genau das macht mich glücklich und stolz.“
           ihre zukünftigen Arbeitgeber:innen aussuchen.

           Wie kann man junge Menschen für den Job begeistern?        Selbst nach zehn Jahren kann sich der diplomierte
           Georgine Gattermayr: Wichtig ist es, die Vielfältigkeit des Berufes   Krankenpfleger, der zusammen mit 28 Pflegekräften
           aufzuzeigen: von der Ausbildung bis zu den unterschiedlichen   und  einem interdisziplinären  Team auf  der
           Arbeitsmöglichkeiten; die vielen verschiedenen Bereiche, in   Kinderonkologie arbeitet, nicht vorstellen, dass sich
           denen man arbeiten kann. Kaum ein Berufsbild bietet so viele   junge Menschen nicht für den Pflegeberuf begeistern
           Entfaltungsmöglichkeiten wie die Pflege. Ich habe den Eindruck,   können. „Der Job hat so viele verschiedene Facetten.
           die Wahrnehmung von Pflege in der Öffentlichkeit beschränkt   Wenn ich einen Job haben will, bei dem ich am Abend
           sich nach wie vor oft auf „warm, satt, sauber“. Die Pflege   weiß, für jemand anderen etwas Sinnvolles getan zu
           sollte als das wahrgenommen werden, was sie ist. Nämlich ein   haben, dann bin ich in der Pflege genau richtig.“
           hochprofessioneller Beruf, der eine adäquate Ausbildung, hohe   Gerade, um wieder mehr Zeit mit den Patient:innen
           menschliche wie auch fachliche Kompetenz und die Bereitschaft   verbringen zu können, hofft Paulischin künftig  auf
           zur ständigen Fort- und Weiterbildung erfordert.
                                                                      mehr Personal. Dann bliebe auch noch genügend
                                                                      Zeit, um weitere Einhorntattoos zu verteilen …_


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