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werden. Auch die Frage nach Zweckmä-

ßigkeit und Effizienz der einzelnen So-

zialschutzsysteme sowie eine sachliche 

Diskussion darüber müssen erlaubt sein –  

und zwar ohne den mittlerweile fast re-

flexartigen Aufschrei. Die Reform der 

Sozialversicherungen ist ein positives Bei-

spiel für eine notwendige Strukturreform.

Prugger

_Ich beurteile die Tauglichkeit 

einen Sozialsystems danach, ob es nach-

haltig jenen hilft, die Unterstützung 

brauchen und ob es mittelfristig finan-

zierbar ist. In Österreich landen nur vier-

zehn Prozent der Sozialleistungen bei den 

einkommensschwächsten Haushalten, 

das ist der drittletzte Platz innerhalb der 

EU. Wir verteilen Sozialleistungen viel zu 

sehr nach dem System „Gießkanne“, das 

heißt, das System ist zu wenig effizient 

und treffsicher und auch nicht generati-

onengerecht. 

02 

Der österreichische Sozial-

staat liegt betreffend Sozialleis-

tungen, sozialer Absicherung 

und Lebensstandard im interna-

tionalen Spitzenfeld. Wo sehen 

Sie die größten zukünftigen Her-

ausforderungen und wie könnte 

man diese am besten meistern?

Gerstorfer

_Die größten Herausforde-

rungen aktuell und zukünftig sind die 

Finanzierung der Pflege, die Frage der 

Gesundheitsversorgung und die Armuts-

bekämpfung. Der demografische Wan-

del wird in zweifacher Form zuschlagen: 

Durch das Älterwerden der Menschen 

und den Zuwachs an Pflegebedürftigen, 

der sich bis 2040 um das Eineinhalbfa-

che erhöhen wird, sowie einer gleichzei-

tig sinkenden Geburtenrate. Die Pflege 

ist historisch aus dem Armenwesen ge-

wachsen und wird von den Gemeinden 

über die Sozialhilfeverbände finanziert. 

Ich finde, der beste Weg, die Pflege auch 

künftig finanzieren zu können, geht über 

das Steuersystem. Und wir brauchen dort 

eine Steuer, wo Wertschöpfung ohne Ar-

beitskraft passiert: Das kann eine neue 

Erbschaftssteuer, eine Digitalisierungs-

steuer, eine Vermögenssteuer oder eine 

neue Finanztransaktionssteuer sein. Wir 

investieren etwas unter zwei Prozent des 

Bruttoinlandproduktes in die Pflege, an-

dere europäische Staaten zahlen drei Pro-

zent ein. Wenn wir das machen würden, 

dann wäre die Pflege für die nächsten 

zwanzig Jahre abgesichert. Der Weg über 

eine Privatversicherung ist für mich inak-

zeptabel und führt zu einem Ausbau der 

Zweiklassenmedizin. Eine Erhöhung der 

Lohnnebenkosten zur Finanzierung der 

Pflege würde den Wirtschaftsstandort 

schwächen.

Prugger

_Wir haben ein gutes, aber – im 

Vergleich zu anderen Ländern – relativ 

teures Sozialsystem. Die Finanzierung der 

Pflege wird schon alleine aufgrund der 

Zunahme der Singlehaushalte auf eine 

neue Basis gestellt werden müssen – jede 

weitere Erhöhung der Lohnnebenkosten 

ist dabei ein No-go. Wir müssen wie an-

dere EU-Länder unsere Schuldenpolitik 

aufgeben und mit Budgetüberschüssen 

die zusätzlichen Pflegekosten finanzieren. 

Auch das Pensionsantrittsalter muss auto-

matisch an die gestiegene Lebenserwar-

tung angepasst werden – alles andere geht 

sonst zu Lasten der heute unter 40-Jähri-

gen. Wenn wir in Oberösterreich 22.000 

offene Stellen haben, muss man mehr als 

bisher auf aktivierende Maßnahmen und 

Flexibilität setzen. Generell müssen Prä-

vention und Eigenverantwortung einen 

neuen Stellenwert bekommen. „Vollkas-

kosysteme“, wo man sich nehmen darf, 

was man möchte, weil man ja „einen 

Anspruch darauf hat“, sind ineffizient 

und sozial ungerecht. Jeder einzelne 

muss wieder den ihm möglichen Eigen-

beitrag leisten, erst dann sollte die So-

lidargemeinschaft einspringen müssen. 

Das sind wir den arbeitenden Menschen, 

also den Beitragzahlern, schuldig. 

Greiner

_Die Ausgaben für Sozial- und 

Gesundheitsleistungen sind mit über 100 

Milliarden Euro im Jahr der mit Abstand 

größte Ausgabenposten des Staates. Ein 

wesentlicher Anteil der Sozialausgaben 

wird von den Unternehmen über Sozi-

albeiträge und Steuerleistungen finan-

ziert.  Die Staatsausgaben haben sich in 

den vergangenen Jahrzehnten deutlich 

weg von investitionsbezogenen und pro-

Das aktuelle  

Sozialsystem ist  

vielfach weder 

effizient noch  

effektiv noch  

generationengerecht.
Axel Greiner

Präsident der Industriellen-
vereinigung Oberösterreich

In Österreich landen 

nur vierzehn Prozent 

der Sozialleistungen 

bei den einkommens-

schwächsten 

Haushalten.
Erhard Prugger

Abteilungsleiter Sozialpolitik,  
Wirtschaftskammer Oberösterreich

Wir brauchen dort  

eine Steuer, wo  

Wertschöpfung ohne 

Arbeitskraft passiert.
Birgit Gerstorfer

Oberösterreichische  
Soziallandesrätin